Feuer – Lena Richter

Kurzgeschichte von Lena Richter

Inhaltswarnungen
Verletzungen, Blut, bewaffnete Auseinandersetzung, Wutanfall, Gift, Alkohol, Familienprobleme, binäres Geschlechterdenken

Am Tag, an dem ich die Amazone im Leichenhaus fand, war ich zum fünfzehnten Mal von zu Hause weggelaufen. 
Die Wut hatte mich vor sich hergetrieben wie der Sturm einen Schwarm Drohnenvögel treibt, hatte meine Schritte durch die Hinterhöfe, Barackensiedlungen und Häuserruinen gelenkt, bis ich schließlich in der dunklen Stille des Leichenhauses wieder zu mir kam. Es war das letzte Gebäude innerhalb der Stadtgrenze von Vilas. Ich war so weit gelaufen, wie es mir möglich war.

Die Wut in mir war ein Monster mit zu vielen Tentakeln. Sie schnürten meinen Magen zusammen, ließen meinen Körper vor Zorn zittern, ballten meine Hände zu Fäusten und ließen sie gegen Wände schlagen und Tische umwerfen. Sie würgten Worte aus meiner Kehle hervor, hasserfüllte Worte, die wie Pfeile durch den Raum flogen und ihr Ziel in den betroffenen Augen meiner Väter fanden, in dem zusammengepressten Mund meiner Schwester. Ich wusste nicht, wie ich das Monster zähmen konnte. Ich konnte nur die Scherben aufsammeln, wenn die Tentakel mich aus ihrem Griff entlassen hatten. Jedes Mal hoffte ich, dass es das letzte Mal gewesen wäre, dass ich das nächste Mal stärker wäre als das Monster. Aber wenn es grollend in meinem Herzen erwachte und den Puls in meinen Ohren dröhnen ließ, wusste ich, dass ich verloren hatte. Also lief ich weg. Es war das einzige, was mir einfiel, um noch mehr Schaden zu verhindern. Ich sah seit Wochen die stumme Trauer in den Augen meiner Familie. Jedes Kind kannte die Geschichten von der Wut, die manche Menschen im jungen Alter befiel wie eine Krankheit und sie zu Ausgestoßenen machte, unfähig, mit anderen zusammenzuleben. Als mein vierzehnter Geburtstag kam und ging, waren wir angespannt und misstrauisch gewesen, aber nichts war passiert. Die Zeit der Sonne verbrachten wir glücklich. Einmal kaufte Vater frisches Fleisch und Gemüse von einem der Kehalassi, der fahrenden Händler, die das Land auf ihren Schrottstieren durchquerten. Papa grillte das Essen hinter dem Haus, während Zirti und ich einen Erdbeerapfel penibel in vier Teile schnitten. Als die Sonne hinter den Ruinen der alten Öltürme versank, aß jeder von uns sein Viertel in schweigendem Genuss. Ich konnte den Geschmack noch auf der Zunge spüren, als die Zeit der Ernte anbrach. In wenigen Wochen wurde ich einen Kopf größer, meine Stimme sackte nach unten und in mir erwachte die Wut. 

Dass ich nicht allein war, bemerkte ich zu spät. Wenn das Monster in mir zur Ruhe ging, ließ es mich zutiefst erschöpft zurück. Ich lehnte mich gegen die dicken, kühlen Wände des Leichenhauses und fühlte meinen Herzschlag flacher und langsamer werden. Erst als mein eigener Atem leise genug war, hörte ich, dass ich nicht der Einzige war, der atmete. Jemand war hier. Jemand atmete flach und gepresst, vermischt mit einem kehligen Wimmern. Es war dunkel im Inneren des Gebäudes, denn auch wenn hier schon lange keine Toten mehr aufgebahrt wurden, hatte niemand je die Notwendigkeit gesehen, mehr oder größere Fenster in die Wände zu setzen. Einen Moment lang verharrte ich lauschend. Eigentlich war klar, was zu tun war. Zwei leise Schritte zurück zur Tür, dann nach draußen rennen und nicht anhalten, ehe der bewohnte Bereich von Vilas erreicht und ich in Sicherheit war. Ich könnte sogar Meldung bei SUN machen und berichten, dass jemand hier war. Vielleicht versteckte sich eine Person hier, die ein Verbrechen begangen hatte, oder ein Technimal, oder ein wildes Tier aus der Kleinöde. Vielleicht würde ich eine Belohnung bekommen. Vielleicht wären meine Väter dann wieder stolz auf mich.
All dieses Hätte-Wäre-Wenn schoss mir durch den Kopf, als ich den ersten Schritt in den Raum machte. 

Zögerlich zog ich eine Hand voll Glühstaub aus meiner Tasche und pustete ihn in die Luft. Im fahlblauen Leuchten, das nach wenigen Sekunden von ihm ausging, sah ich in der Ecke des Raumes eine Gestalt auf einer zerschlissenen Matratze liegen. Das Leichenhaus diente manchmal den Armen und Ausgestoßenen als Unterschlupf für ein paar Nächte, ebenso wie hier zwischendurch die älteren Jugendlichen mit AnimalHop und AntCider ihre Partys feierten, auf die ich noch nie eingeladen worden war. Leichen hatten hier jedenfalls keine mehr gelegen, seit damals das Verbrennen der Toten gesetzlich vorgeschrieben wurde, nachdem ein paar Hundert Untote die Bucht von Salaro überrannt hatten. Ich kannte die Geschichte. Ich hatte ein Holospiel dazu, das Zirti und ich gespielt hatten, wenn wir allein zu Hause waren. Unsere Väter hätten es sofort aus dem Haus verbannt, aber die Zombies in dem Spiel waren nicht besonders gruselig und zu zweit auf sie zu schießen machte Spaß. Trotzdem wünschte ich, die Geschichte mit den lebenden Leichen wäre mir nicht gerade jetzt wieder eingefallen. Aber als ich im heller werdenden Leuchten des Staubs endlich erkannte, wen ich gefunden hatte, vergaß ich alle anderen Geschichten. Alle außer die von Arimena Alar.

Geschichten waren das Größte für mich. Mir war egal, ob sie aus elektronischen Büchern stammten, aus den alten Magazinen, die ich als Dämmung in den Wänden unseres Hauses entdeckt hatte, aus den Gute-Nacht-Geschichten meiner Eltern oder aus den Holospielen, für die Zirti und ich wochenlang Kupfer sammelten und Rattenfallen leerten. Die Geschichten ließen die Alte Welt wieder lebendig werden, ließen mich als Seefahrer über die Meere ziehen, die damals noch nicht ausgetrocknet gewesen waren. Sie erzählten von den glitzernden Lichtern der Orbitalstationen, dem Letzten Krieg und seinen Heldentaten, von mutigen Frauen und gewitzten Männern, mit denen ich mitfieberte. Aber keine Geschichte liebte ich so sehr wie die von Arimena Alar, der Amazonenkönigin. Sie war die Heldin Dutzender Filme und AniComics ebenso wie die Titelfigur der Feuerkönigin-Trilogie, die ich mindestens zehnmal von vorne bis hinten durchgespielt hatte. Zu meinem achten Geburtstag hatte Vater mir aus Stoffresten einen blau-goldenen Umhang geschneidert, wie Arimena ihn in den Filmen trug. Ich war überglücklich und trug ihn beim Spielen mit den anderen Kindern, bis er nach einem Jahr nur noch in Fetzen hing. Die neidischen Blicke meiner Freunde und Freundinnen waren fast noch besser gewesen als das Geburtstagsessen. Ich träumte davon, so mutig und frei wie die Königin der Amazonen zu sein, so wie kleine Kinder es eben tun. Dass ich nur ein Junge war, war mir gleich. Und dass der Krieg der Amazonen gegen die letzten Heerscharen der Alten Welt nicht nur ein erfundenes Märchen war, erfuhr ich erst später, als Papa ein Schul-Holo über alte Geschichte aufgetrieben hatte. Ich wollte sein wie Arimena Alar mit ihrem flatternden Umhang, dem goldenen Haar und der riesigen Schwertmuskete, die auf ihrem treuen Gefährten Geronimo, dem schnellsten der Sturmtapire, Heldentaten vollbringt.

Die Frau auf der Matratze sah nicht aus wie Arimena Alar. 
Natürlich erkannte ich sie sofort als Amazone, denn ihre Arme und Beine waren in eng anliegende Kleidung aus Schuppenseide gehüllt. Leicht und biegsam und doch hart wie Stahl. So hieß es in den Geschichten, aber aus dem rechten Bein der bewusstlosen Frau ragte ein Bolzen, der fast so dick war wie mein Daumen. Über der Schuppenseide trug sie eine knielange Brünne aus Zirbelplast, voller Flecken, abgeplatzter Stellen und Dreck. Ratlos ging ich neben der Matratze auf die Knie. Die Kleidung und die neben ihr liegende Schwertmuskete zeigten eindeutig, dass die Bewusstlose zu den Amazonen gehören musste. Ich hatte gehört, dass sie in den letzten Jahren ihre Festung verlassen hatten und durch die Lande streiften. Doch sie wirkte völlig anders als die Amazonen in meinen AniComics und Spielen. Im Stehen hätte sie mich höchstens um eine Handbreit überragt. Ihre Haut war noch dunkler als meine und ihr Haar war weder golden noch wallend, sondern kurz, dunkel und ziemlich fettig. Und vor allem war sie nicht hier, um Heldentaten zu vollbringen, sondern brauchte ganz dringend selbst Hilfe. Das Blut aus der Wunde an ihrem Bein hatte schon die Matratze durchtränkt und sie hatte noch nicht einmal bemerkt, dass ich neben ihr kniete. Ihre Augenlider flatterten, Schweiß stand ihr auf der Stirn. Ich aktivierte die Lampe des alten Kommunikators, den ich ums Handgelenk trug. 3 verpasste Anrufe, zeigte das Display an, dazu die erste Zeile einer Textnachricht von Zirti. WO BIST DU, TARNIK? ICH MACHE MIR – ich wischte die Nachrichten weg und richtete den Lichtstrahl auf den Bolzen im Bein der Amazone. Es sah aus, als wäre sie in eine der Selbstschussanlagen geraten, die Vilas umgaben. Die meisten von ihnen stammten aus der Zeit des Letzten Krieges und funktionierten kaum noch. Sie musste wirklich Pech gehabt haben. So etwas war Arimena nie passiert. Ich beugte mich vor, schnupperte vorsichtig an der Wunde und roch Blut, Schweiß und den stechenden Duft von Schlangenginster. Diese Büsche wuchsen nur hier, in den Ausläufern des Gebirges, und ihr Gift haftete, einmal aufgetragen, für Jahrzehnte auf einer Klinge oder einem Bolzen. Doch auch ein Schnitt an den Dornen war giftig, ebenso wie der Blütenstaub, der die Stadt am Ende des Frühlings wie eine gelb schillernde Wolke umgab. Und genau deswegen hatte ich, wie eigentlich alle in Vilas, stets eine Dosis des Gegengifts bei mir.

Die Amazone erwachte eine halbe Stunde später. Mit einem Ruck setzte sie sich auf und tastete nach ihrer Waffe – erfolglos, ich hatte alles, mit dem sie mich verletzen konnte, außer Reichweite geschafft. Ich hatte ihr das Gegengift eingeflößt, nach einigem Zögern das scharfe Messer von ihrem Gürtel genommen und die durchgeblutete Schuppenseide um den Bolzen herum abgeschnitten. In einem der üblichen Verstecke hatte ich eine Flasche des klaren Alkohols gefunden, den die älteren Jugendlichen für ihren selbst angesetzten AntCider benutzten. In dem Zombiespiel konnte man Alkohol immer benutzen, um Wunden zu desinfizieren, auch wenn ich nicht genau wusste, wie. Letztendlich hatte ich einfach die halbe Flasche über die Wunde geschüttet. Den Rest konnte sie ja immer noch trinken, falls das der Trick dabei war. 
„Wo bin ich?“ Sie atmete schwer, sah sich um und verzog das Gesicht, als sie direkt in die Lampe meines Kommunikators schaute. Er hatte in den letzten Minuten noch zweimal einen Anruf angezeigt, aber ich konnte jetzt nicht mit meiner Familie sprechen. Was sollte ich ihnen erzählen? Dass ich eine verletzte Amazone im Leichenhaus gefunden hatte? Dass ich aus einer Laune heraus beschlossen hatte, ihr zu helfen, statt wegzulaufen, und ihr sogar mein kostbares Gegengift gegeben hatte? Vielleicht hätte ich das tun können, als noch alles gut war. Aber seit die Wut in mir wohnte, war jeder weitere Zwischenfall nur ein weiterer Keil, der zwischen mich und meine Väter getrieben wurde. 
„Du … du bist im Leichenhaus von Vilas.“ Ich war mir nicht sicher, ob ich sie anders hätte ansprechen müssen. In den Filmen über Arimena kniete das einfache Volk stets dankbar vor ihr und brachte ihr höchste Ehrerbietung entgegen. Aber da hatte sie ja auch schon zahllose Heldentaten vollbracht, während die Verletzte meine Hilfe gebraucht hatte. Kurz hatte ich überlegt, ob ich den Bolzen aus ihrem Bein ziehen konnte, aber er steckte fest in ihrem Oberschenkel und ich hatte keine Ahnung, was ich danach hätte machen sollen. Normalerweise verarztete man blutende Wunden mit Dermaglue, aber dazu hätte ich sie zu einem Krankenhaus bringen müssen. 
Ich schaltete die Lampe aus, damit sie mich besser sehen konnte. Wir saßen uns gegenüber, während der Glühstaub unsere Gesichter in blassblaues Licht tauchte. 
„Der Bolzen in deinem Bein, da war … er war mit Schlangenginster bestrichen. Gift. Ich habe dir ein Gegengift gegeben und jetzt … bist du wach“, stotterte ich. 
Ihr Blick wurde klarer, schweifte einmal durch den großen Raum. Sie nickte. 
„Danke, Junge.“ 
Ihre Stimme war leise und ein wenig kratzig. Mehr sagte sie nicht. Enttäuschung machte sich in mir breit. Ich hätte erwartet, dass sie nun erklärte, in meiner Schuld zu stehen. Ich hatte schon überlegt, um was ich sie hätte bitten können. Vielleicht hätte sie meinen Vätern erklären können, warum sie mein Gegengift gebraucht hatte. Oder sie hätte mir ihre Schwertmuskete schenken können. Eine solch seltene Waffe hätten wir verkaufen können, sie hätte meine Familie ein Jahr lang versorgt. Aber sie sagte nichts, sondern zog nur selbst eine Lampe hervor und begann ihr Bein zu untersuchen, in dem noch immer der Bolzen steckte. 

„Es gibt ein Krankenhaus hier“, sagte ich. Ich könnte sie wenigstens auf dem Weg dorthin stützen und alle in der Stadt würden sehen, dass ich es war, der die Amazone gefunden und gerettet hatte.
Aber ihre Augen verengten sich und sie schüttelte den Kopf. 
„Dort würde man mir nicht helfen. Wir sind hier nicht willkommen.“
Ich starrte sie verwirrt an. Wie konnten Amazonen irgendwo nicht willkommen sein? Sie waren doch die Heldinnen, die den Letzten Krieg beendet hatten.
„Aber … aber warum?“, fragte ich.
Die Amazone zögerte. Sie richtete die Lampe auf mein Gesicht und entspannte sich dann sichtlich. Offensichtlich war ihr klar geworden, wie ungefährlich ich war. Nur ein kleiner Junge. Ich sah zu Boden und fühlte mich wütend und verlegen gleichzeitig. 
„Entschuldige“, sagte sie dann, ihre Stimme weicher als zuvor. „Hast mir geholfen und ich habe mich nicht mal vorgestellt. Ich bin Cyrix.“ 
„Ich heiße Tarnik“, murmelte ich gen Fußboden.
„Danke, Tarnik. Du kannst jetzt gehen. Ich komme zurecht.“
„Aber … aber dein Bein! Der Bolzen steckt immer noch drin. Und warum sollte man dir im Krankenhaus nicht helfen? Du … du bist doch eine Amazone. Ohne euch wäre doch damals die Welt untergegangen!“
Sie schüttelte den Kopf und musterte mich mit einem Blick, den ich nicht einordnen konnte. Lachte sie mich aus? Oder hatte sie Mitleid mit mir?
„Der Krieg ist lange her“, sagte sie dann. „Niemand von uns beiden hat ihn miterlebt. Niemand von uns kennt auch nur eine Person, die ihn erlebt hat.“ 
Ich nickte. Die älteste Frau in Vilas war die alte Garine, doch auch sie mit ihrem schlohweißen Haar und dem Gesicht voller Falten kannte den Letzten Krieg nur aus den Erzählungen ihrer Großeltern. 
„Aber es gibt doch Geschichten“, protestierte ich. 
„Ah, Geschichten. Lass mich raten – Königin Anemona und ihre großen Taten?“
„Königin Arimena“, korrigierte ich mit Nachdruck. Wie konnte sie die berühmteste Amazone von allen nicht kennen? 
 „Das sind Geschichten, Tarnik. Märchen, die man Kindern erzählt. Nicht komplett erfunden. Aber alles andere als wahr.“
„Aber … aber die Amazonen haben doch den Krieg beendet! Alle wissen das, wir haben es in den Schul-Holos gelernt, und meine Väter haben es mir auch erzählt.“  Der Steinboden des Leichenhauses unter meinen Füßen schien zu beben. Geschichten waren das Größte. Geschichten hatten mir immer geholfen, wenn ich mich einsam oder unverstanden fühlte. Und jetzt sollten sie nichts wert sein? Etwas, das man vergisst, wenn man erwachsen wird? Ich fühlte trotz meiner Erschöpfung und Verwirrung, wie das Monster meiner Wut im Schlaf grollte.

„Ich kann dir erzählen, was ich über den Krieg weiß“, sagte Cyrix. „Aber ich weiß nicht, ob es dir gefallen wird.“ Sie begann in einer kleinen Tasche zu kramen, die an ihrem Gürtel hing. „Erst muss der Bolzen raus. Und ich muss ein anderes Versteck finden. Ich fürchte, er ist mir gefolgt.“
„Gefolgt?“ Ich hatte nicht einen Moment lang gedacht, dass sie sich die Verletzung anders zugezogen haben könnte als durch die alte Selbstschussanlage. „Wer ist dir gefolgt?“
„Ein Mann, der hinter mir her ist. Glaube nicht, dass du ihn kennst.“ Sie zog eine kleine Spritze aus der Tasche und setzte sie an die Stelle neben dem Bolzen an. „Er ist hinter mir her, seit ich in diese Gegend gekommen bin. Einer von den Erneuerern.“
„Wem?“ Davon hatte ich noch nie gehört, weder in den Schul-Holos noch in einer Geschichte.
„Ein Bündnis, das sich auf die Zeit vor dem Letzten Krieg beruft. Die Erneuerer der Alten Welt.“ Ihr Gesicht zeigte Verachtung. „Werden leider immer mehr in letzter Zeit. Sie jagen Amazonen und Technimals, erschießen vercyberte Tiere. Sind hinter jedem her, der Implantate oder Fähigkeiten hat. Wenn es nach ihnen ginge, würden sie die Alte Welt wieder aufbauen, mit ihren abgeschotteten Inseln für die Reichen, ihren Heeren und ihren Kriegsmaschinen. Und wir anderen könnten abkratzen.“ Cyrix klopfte auf ihr Bein und war offenbar zufrieden mit der Wirkung der Spritze. 
„Also, wenn du willst, dann kannst du mir helfen, diesen Bolzen rauszuziehen und dann erzähle ich dir alles, was du wissen willst. Nur nicht hier.“
Ich nickte eifrig. Anscheinend gab es eine Menge Dinge, die ich nicht wusste. Und eine echte Amazone würde das ändern. 
„Also, was soll ich – 
Die Tür flog mit einem ohrenbetäubenden Krachen aus den Angeln.

Blendend weißes Licht. 
Schrilles Pfeifen.
Harter Steinboden an meinem Gesicht, taube Finger, Schmerzen, klebrige dunkle Flüssigkeit tropfte mir in die Augen. 
Keuchend versuchte ich zu verstehen, wo ich war und was passierte. War ich bewusstlos gewesen, und wenn ja, wie lange? Wo war Cyrix?
Ich blinzelte heftig, wischte das Blut aus meinem Gesicht, noch gehorchten mir meine Arme. Ich stemmte mich hoch auf alle Viere. Hörte einen Bolzen durch die Luft sirren und an der Wand zerschellen, eine Männerstimme fluchen.
Ich atmete tief, meine Augen gewöhnten sich endlich an das Licht aus einem Dutzend tanzender Leuchtdioden, die grellweiße Kegel durch den Raum warfen. Die Matratze war leer, die Splitter des Bolzens auf ihr verteilt. Cyrix musste trotz der Verletzung ausgewichen sein. Eine große Gestalt stand mit dem Rücken zu mir, warf wütend einen Bolzenwerfer zu Boden. Wo war die Amazone? Sie konnte nicht weggelaufen sein, nicht mit dem verletzten Bein.
„Zeig dich endlich, Amazonenschlampe!“ Der Mann schien mich noch nicht bemerkt zu haben. Er zog ein langes Messer aus dem Gürtel. Wieder roch ich Schlangenginster. 
Hinter einem der Steintische, die vor langer Zeit zum Aufbahren der Leichen gedient haben mussten, bewegte sich etwas. Der Erneuerer sah es im selben Moment wie ich und sprintete los. Mit einem Satz war er über den Tisch und holte mit dem Messer aus. Im flackernden Licht sah ich, wie Cyrix seinen Arm mit ihrer Hand abblockte, sich drehte und ihren Ellenbogen in der Magengrube ihres Verfolgers versenkte. Er keuchte, ließ aber das Messer nicht los.
Mit einem Mal wurde mir klar, dass ich sie entwaffnet hatte, damit sie mir nichts tun konnte. Noch dazu war sie schwer verletzt. 
Es würde meine Schuld sein, wenn sie starb.
Dieser schreckliche Gedanke riss mich endlich aus meiner Starre. Ich krabbelte über den Boden, dorthin, wo ich Cyrix’ Messer vorhin gelegt hatte. Meine Hand schloss sich um den Griff und ehe ich mir überlegen konnte, was ich da eigentlich machte, rannte ich mit dem Messer voran auf den Angreifer zu. Er schmetterte der Amazone gerade aus der linken Hand etwas entgegen, was sich mit einem weiteren Krachen entlud. Während sie nach hinten geschleudert wurde, wirbelte er herum und hob sein Messer zur Abwehr. Ich erreichte ihn, stach nach ihm, mein Messer prallte auf seins und wurde mir aus der Hand geschleudert. Ein schneller Halbkreis seines rechten Beins zog mir die Füße weg und ich landete erneut schmerzhaft auf dem Rücken. Er wandte sich ab.

Schmerzen vibrierten durch meinen Arm und meinen Rücken. Schon wieder war Blut in meinem Gesicht. Mühsam und nach Luft ringend setzte ich mich auf, mehr aus Instinkt als mit irgendeinem Plan. Die Erkenntnis, dass ich hier und jetzt sterben könnte, erfüllte mich mit lähmender Angst. Cyrix war schwer verletzt und ich hatte dem Mann nichts entgegenzusetzen. Er würde erst sie töten und dann mich. Eine Flut von Bildern stieg in mir auf, als ich mir vorstellte, wie die SUN-Patrouille an der Haustür klingelte, um meinen Vätern von meinem Tod zu berichten. Wie Zirti weinend zusammenbrach. Wie ich nie mehr zurückkam um mich zu entschuldigen für meine Wutausbrüche und all den Kummer, den ich ihnen bereitet hatte. Tränen brannten in meinen Augen und die Angst erreichte meine Kehle, ließ mich würgen. 
In dem Moment, indem ich mich einfach wieder zu Boden sinken lassen wollte, erwachte mit lautem Grollen das Monster in mir.

Der Schrei, der durch das Leichenhaus hallte, erschreckte mich zutiefst, auch wenn ich ihn selbst ausgestoßen hatte. Ich wusste nicht, dass ich so brüllen konnte, so laut, so voller Zorn. Auf einmal war ich auf den Beinen, stürmte vorwärts. Der Erneuerer kniete über Cyrix, ein Knie auf ihrem verletzten Bein, das andere auf ihrem Oberkörper. Er führte das vergiftete Messer in Richtung ihres Halses. Ich rannte, brüllte, krachte in seine Seite. Zum dritten Mal schlug ich auf dem Boden auf, doch diesmal hatte ich ihn mit umgerissen. Ich schlug mit bloßen Fäusten in seine Richtung, erwischte ihn am Kinn, während er mir seinen Unterarm seitlich gegen den Kopf schlug. Das hier würde nicht gut enden, konnte nicht gut enden. Vielleicht hätte ich aufgeben und um mein Leben betteln sollen. Aber ein weiteres Mal hatten die Tentakel meiner Wut die Kontrolle übernommen, schlugen mit meinen Händen weiter auf den Angreifer ein.
Ich brüllte.
Und Cyrix antwortete.

Wieder traf der Erneuerer mich im Gesicht. Sterne tanzten vor meinen Augen. Ich hörte meinen Schrei, der sich mit dem der Amazone vermischte. Den Bruchteil einer Sekunde lang fühlte es sich an, als würde ich ihren Herzschlag in meiner Brust fühlen, ihre Gedanken in meinem Kopf hören. Ein weiterer Schlag gegen meinen Kopf. Schwarze Ränder zogen sich um mein Blickfeld zusammen, ich kämpfte, um bei Bewusstsein zu bleiben. Verschwommen sah ich, wie Cyrix auf die Beine sprang, der Bolzen wie vergessen. Sie brüllte immer noch, ihre Bewegungen schienen schneller zu werden, sie war heran, ehe der Mann reagieren konnte, riss ihn von mir fort. Mein eigener Schrei verstummte endlich. Die Wut verebbte, Schmerzen schossen durch jede Faser meines Körpers und alles wurde schwarz.

Als ich erwachte, lag ich auf der Matratze und Cyrix saß neben mir. Der Bolzen war aus ihrem Bein verschwunden, ein Verband angelegt. Von ihrem Verfolger war nichts mehr zu sehen.
„Was … ist … passiert?“, krächzte ich hervor. 
„Er ist keine Gefahr mehr“, sagte sie ruhig. Ich fragte mich, ob sie ihn getötet hatte. Aber das war nicht das Wichtigste, was ich wissen wollte. Mühsam rollte ich mich auf die Seite, setzte mich mit ihrer Hilfe auf. 
„Du … du bist … du hast auch …“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, was ich gefühlt hatte, als wir gemeinsam unsere Stimmen erhoben hatten.
„Ja“, erwiderte sie nur. 
„Was ist mit mir? Mit uns?“
„Wir Amazonen nennen es das Innere Feuer.“ Cyrix tippte vorsichtig mit ihren Fingerspitzen gegen meinen Brustkorb und musterte mich. Ich blickte ihr in die Augen und erinnerte mich an die Verbindung zu ihr, die ich einen Moment lang gefühlt hatte. 
„Die meisten außerhalb der Amazonenfestung haben vergessen, was es ist. Sie fürchten den Zorn, der in manchen jungen Menschen erwacht. Sie wissen, es hat etwas mit den Amazonen zu tun. Hassen uns dafür. Lassen uns nicht in die Städte, obwohl wir helfen könnten.“
„Helfen?“
„Das Feuer wird jene verzehren, die nicht lernen, es zu kontrollieren. Doch denen, die es beherrschen, wird es den Zorn und die Kräfte verleihen, gegen die zu bestehen, die diese Welt bedrohen. Du kannst es lernen.“
„Aber ich … ich bin ein Junge!“
Die Amazone schüttelte lächelnd den Kopf. „Vergiss die Geschichte von Königin Arimena. Männer, Frauen, Technimals, Vercyberte, Befähigte – das Feuer kann in jedem Menschen erwachen. Und wer es beherrscht und gegen die Kräfte kämpft, die die Alte Welt verbrennen ließen, ist eine von uns.“
Überwältigt vergrub ich das Gesicht in den Händen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Oder denken. Oder fühlen. Aber ich wusste, dass jetzt nichts mehr sein würde wie zuvor. Die Geschichten meiner Kindheit waren gleichzeitig ferner und näher als je zuvor.

„Es gibt so vieles, was wir nicht mehr wissen“, sagte Cyrix in mein Schweigen hinein. „Wir haben vergessen, wer uns das Innere Feuer schenkte. Wir wissen nicht, ob es wieder in vielen Herzen erwachen wird, jetzt, wo die Erneuerer stärker werden und sich die Alte Welt zurückwünschen. Deswegen haben die meisten von uns die Festung verlassen. Wir suchen nach Antworten. Und nach denen, in denen das Feuer erwacht ist. So wie in dir.“
Ich schluckte. Die Vorstellung, dass noch mehr Menschen in meinem Alter allein waren mit der Wut in ihnen, ohne zu wissen, was mit ihnen passierte, war überwältigend. Und dass es noch viel mehr Leute wie Cyrix’ Verfolger gab, die mit vergifteten Messern und Bolzenwerfern Jagd auf diese Menschen machten, ließ mich vor Wut zittern.
„Ich möchte helfen!“, platzte ich heraus. „Ich will lernen, wie man dieses Feuer beherrscht. Und mit den Amazonen gegen diese Erneuerer kämpfen. Aber … aber erst musst du das alles meinen Eltern erklären.“
Ich hörte Cyrix zum ersten Mal lachen.
„Bist noch sehr jung, Tarnik. Aber wir können jede Hilfe brauchen. Bring mich zu deiner Familie.“
Als wir das Leichenhaus verließen, versank die Sonne gerade hinter den Öltürmen. Die Berge glühten rot und lange Schatten lagen in den Gassen von Vilas. Mein ganzer Körper schmerzte und Cyrix stützte mich.
Langsam gingen wir durch die Straßen meiner Heimat. 
Ich blickte auf die vertrauten Häuser, hörte in der Ferne die Musik, die aus den Bars des Großen Marktes dröhnte und roch das Essen, das an den Straßenecken verkauft wurde. Irgendwo da draußen waren Leute, die all das hier zerstören wollten. Das Monster in mir regte sich bei dem Gedanken und ließ mein Herz schneller schlagen. Das Feuer in mir erwachte erneut. 
Und zum ersten Mal hieß ich es willkommen.


Feuer ist auch in Queer*Welten Ausgabe 1 enthalten.

Ein Gedanke zu „Feuer – Lena Richter

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